Wie die Mäuse in die Luft kamen

Vor 6 Millionen Jahren sassen die Mäuse zusammen und diskutierten. “Wir haben es satt,” sagten sie, “immer am Boden herum zu kriechen und nur Gras zu sehen. Etwas muss sich ändern!” Sie einigten sich ziemlich schnell: “es muss nach oben gehen, in die Luft!”
Es folgten weitere lange Planungssitzungen. Sie diskutierten wieder und wieder bis tief in den Tag hinein (sie sind ja mehrheitlich nachtaktiv…) bis endlich ein Plan herauskam: “wir müssen uns Flügel wachsen lassen!”
Die Botschaft verbreitete sich im Mäusereich wie ein Lauffeuer: “Eltern, schaut zu, dass Eure Kinder Flügel haben!” Pflichtbewusst schauten sich die Mäuse immer Bilder von Flügel an, bevor sie Kinder bekamen. Sie studierten auch sorgfältig die fliegenden Insekten, und dachten sich dabei immer “Meine Kinder müssen auch solche Flügel haben!” Natürlich ging das nicht über Nacht, auch wenn sie noch so positive Gedanken formulierten. Die ersten Generationen haben sehr genau hinschauen müssen, um überhaupt etwas erkennen zu können. Aber sie waren treu, und gaben die Pläne auch ihre Kinder weiter. Nach eine Million Jahren war es endlich so weit: die erste Maus mit brauchbaren Flügel war da! Seine Eltern waren ganz stolz, und haben keinen Aufwand gescheut, damit der kleine zukünftsweisende Kerl das Fliegen lernen konnte. Sie wurden auch von den Mausmedien ständig befragt, wie sie es dann geschafft hatten, ein flugfähiges Kind zu bekommen. Ihre Antworten wurden schnell verbreitet. Ein Tipp hat aber leider zum Krieg zwischen den Mäusen und den Insekten geführt: die stolzen Eltern haben geraten, Mäuse sollten auch fliegende Insekten fangen und essen. Die Insekten haben mit voller Wucht zurückgeschlagen: bis heute leiden Mäuse unter die Angriffe der Fussoldaten der Insekten, die Flöhe.
Während seine ganzen Jugendmonate musste das Kind das Fliegen üben: sein ganzes Dorf hat ständig Polstermatten aus Gras gewoben, damit er eine sichere Umgebung für seine Flugübungen hatte. Täglich hat er geübt, mühevoll. Bald kamen auch weitere flugfähige Kinder zur Welt, als die anderen Eltern die Tipps befolgten! Endlich war es so weit – die ersten flugfähige Mäuse waren bereit, loszufliegen und die Lüfte zu erkünden! Eine Million Jahre hat es gedauert, aber die Mäuse waren ihrem Ziel treu geblieben. Die Nacht kam, an der die ersten Mäuse wirklich frei fliegen sollten, ohne Polstermatten, ohne Sicherheitsnetz. Alle Mäuse versammelten sich wieder. Sie feierten! Sie jubelten! Die Aufregung war grösser, als es je ein Maus zuvor erlebt hatte. Der Grosse Mäuserat trat auf mit langen Reden (aber kurzem Sinn): Dank an die Generationen die bis jetzt durchgehalten hatten! Das Durchhalten habe sich endlich gelohnt, jetzt bräche die grosse Zukunft der Mäuse an!
Die jungen Mäuse setzten zu Flug an: spannten die Flügel und mit eins, zwei, drei Flügelschläge waren sie in der Luft! Sie hoben ab, und zogen Kreise Zentimeter über das Gras. Der Jubel war immens! Manche (noch erdgebündene) Mäuse konnten ihre Freude kaum bändigen, und hüpften herum oder vollbrachten zwei- und dreifache Saltos!
Nach wenigen Minuten müssten die fliegende Mäuse aber wieder landen, fast erschöpft. “Essen! Gebt uns Essen!” verlangten sie. “Das ist ganz schön anstrengend, immer die Flügel schlagen zu müssen! Und wir sehen kaum etwas dort oben! Unsere Augen sind zwar gut, aber nur über kurze Entfernung. In die Luft geht alles so schnell vorbei – da muss man weiter schauen können.”
Die Ernüchterung war gross. “Was?” fragten sich die Mäuse, “eine Million Jahre, und wir können nur ein Paar Minuten lang fliegen, und dabei kaum etwas sehen?” Der Grosse Mäuserat trat konsterniert zusammen. “Sind unsere Vorfahren einen trügerischen Traum gefolgt? Haben wir die letzten Million Jahren verschwendet?” Das ganze Volk fiel fast in eine Depression. Wieder beriet der Grosse Mäuserat Nächte- und Tagelang und schmied Pläne. Endlich präsentierten sie die Ergebnisse: “Wir müssen im Flug essen können, und unsere Sehvermögen verbessern! Wie wir es jetzt schon gelernt haben, werden wir fliegende Insekten jagen und essen, aber in der Luft. Das mit dem Sehen ist aber schwierig. Unsere Berater haben zwei Möglichkeiten ausgearbeitet: die erste ist das Radar, aber da werden in den nächsten mehrere Millionen Jahren vermutlich einige Basistechnologien fehlen. Die zweite Möglichkeit funktioniert über Echo: ihr müsst laut schreien, und aus dem Echo euch ein Bild der Umgebung aufbauen!”
Die Mäuse waren erschrocken. Die Insekten würden diesen Vorschlag sicher nicht goutieren. Und wie soll das mit dem Echo gehen? Die Verzweifelung war gross. Wieder trat der Grosse Mäuserat auf, und ermutigte sie: “Doch, das können wir schaffen. Unsere Vorfahren haben auch nur eine Idee gehabt, und sich lange gedulden müssen. Jetzt machen wir es gleich! Wir sagen es immer unseren Kinder weiter: seht zu, dass ihr lernt, Echos zu deuten!”
Es folgten nochmals eine Million Jahre, währen der die Mäuse sich anstrengten. Millionen von Flugstunden wurden absolviert bei verschiedene Versuche, die Echodeutung zu verbessern. (Eigentlich waren es Abermilliarden von oft tödlichen Flugminuten, als Mäuse in Bäume und Felswände gekracht sind beim Versuch, ein Insekt im Flug zu fangen.) Während dieser Zeit gaben viele frustriert auf, und gaben sich mit der Erde und dem Gras zufrieden. Eine immer kleiner werdende Zahl blieb dem grossen Ziel aber treu bis endlich! eine Maus die ganze Nacht in der Luft blieb und sich im Flug ernähren konnte!
Es gab wieder Grund zur Freude! Sie hatten es nach zwei Millionen Jahre geschafft! Der Grosse Mäuserat trat wieder zusammen, um das Ergebnis und die Zukünft wieder zu diskutieren. Nach nur kurze Diskussion traten sie wieder stolz vor das Volk: “Das Ziel der vergangenen zwei Million Jahren ist endlich erreicht! Aber nicht alle sind dem Ziel treu geblieben. Darum haben wir uns entschieden, es gibt ab heute eine Trennung zwischen den treuen und den untreuen. Ab heute dürfen sich die treuen Fledermäuse nennen, und sich das Leben in der Luft verpflichten! Die untreuen bleiben einfache Mäuse, am Boden behaftet.” Das Gejammer war gross, als die untreue Mäuse ihren Fehler gemerkt haben. Und so ist es bis heute geblieben: die Mäuse sehen ihre Verwandten in die Luft, und sind erfüllt von Sehnsucht. Sie sind schon wieder daran, sich Flügel wachsen zu lassen, aber auch für uns Menschen sind eine Million Jahre eine lange Zeit. Wir werden ihren Erfolg oder Versagen nicht mehr erleben.